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Entzug vor einem Kernschlag

(Text: Michael Wegerich)

An einem sonnigen Herbstmorgen 1977 lag eine trügerische Ruhe über dem Flugplatz Marxwalde. In den frühen Morgenstunden wurde Gefechtsalarm ausgelöst. 36 einsatzbereite MiG-21M / MF in geschlossenen Deckungen für Flugzeuge (GDF oder Shelter) waren durch zur Gefechtsrate eingeteiltes Personal (Techniker und Flugzeugführer) besetzt. Die Flugzeugführer saßen angeschnallt in den Kabinen der MiGs und waren zum Anlassen der Triebwerke bereit. Ich saß in einer MiG-21MF der 3. Staffel.

Der Gefechtsalarm war nicht unerwartet, sondern seit längerer Zeit angekündigt. Nur der genaue Zeitpunkt war immer eine Überraschung. In den letzten Wochen wurde bei der Bekanntgabe der Gefechtsrate nicht nur mitgeteilt, wer mit welcher Rate welches Flugzeug in welcher GDF zu besetzen hat, sondern in welcher Ordnung im Falle eines Alarmstarts des Geschwaders zu rollen und zu starten ist. In den letzten Monaten hatten wir den Geschwaderstart mit 36 Flugzeugen geübt. Zunächst stellten sich 12 MiGs einer Staffel am Westende und 12 MiGs am Ostende auf der SLB (Start- und Landebahn) in Startposition auf. 12 weitere MiG-21 standen vor der Rasenbahn bereit. Nachdem der letzte Flugzeugführer seine Startbereitschaft gemeldet hatte, erteilte der SKP (Startkontrollpunkt oder Tower) der Staffel am Ostende und der vor der Rasenbahn gleichzeitig Starterlaubnis. Als die letzte Maschine in Richtung Westen über die Kabinendächer der Wartenden abhob, erhielt auch die Staffel am Westende Starterlaubnis. Als dieses Startverfahren sicher funktionierte, wurde der Geschwaderstart aus der Bewegung, ohne an der Startposition anzuhalten, geprobt. Hier kam es darauf an, daß jeder in der festgelegten Reihenfolge aus seiner GDF rollte und sich die Staffel schon beim Rollen in der festgelegten Ordnung befand, um zügig in der befohlenen Gefechtsordnung aus der Bewegung zu starten. Am Anfang klappte dieses Verfahren noch nicht reibungslos. Mal rollte einer zu früh aus seiner GDF und war plötzlich in einer falschen Position. Ein anderer meldete eine Verzögerung oder einen Defekt zu spät, so daß andere zu lange warteten und die Rollabstände sowie die Zeitverzögerung zu groß wurden. Man mußte genau aufpassen, die Rollreihenfolge, die Flugzeugnummern und die Indexe der Flugzeugführer seiner Staffel genau kennen. Das Rollen zum falschem Zeitpunkt konnte ein Chaos verursachen. Mit jedem Training wurden wir besser. Die notwendigen Funkkommandos und Abstimmungen per Funk wurden immer weniger. Die festgelegte Zeit zwischen der Alarmierung und bis zum Abheben des letzten Flugzeuges von 10 Minuten konnte eingehalten und nach weiteren Trainings sogar unterboten werden. Das Alarmsignal zerriß die Ruhe auf dem Flugplatz. 36 Tore der GDF gingen fast gleichzeitig auf und an allen Stellen des Flugplatzes hörte man Triebwerke anlassen. Kurze Zeit später rollten die Maschinen aus den GDF. Nach dem mein Triebwerk angelassen und ich rollbereit war, ging mein Techniker nach vorne und schaute aus dem Tor nach den ersten rollenden Maschinen. Auch er wußte, nach welcher Maschine ich zu rollen hatte. Auf ein Zeichen von ihm erhöhte ich die Drehzahl und das Flugzeug begann sich langsam zu bewegen - da sah ich schon die Maschine vorbeirollen, der ich zu folgen hatte. Das Besondere an diesem Tag war, daß Funkstille herrschte und diese nur bei Ausfällen der Flugzeugtechnik oder anderen Besonderheiten gebrochen werden durfte. Wir rollten in sehr kurzen Abständen, aber seitlich versetzt, um nicht in den Abgasstrahl des voraus Rollenden zu geraten. Die Rollgeschwindigkeit wie sie für die normale Gefechtsausbildung festgelegt war (30 km/h auf Rollwegen, 15 km/h vor der Vorstartlinie, 5 km/h in Kurven), wurde nicht mehr eingehalten. 60 km/h und mehr waren nicht ungewöhnlich. Beim Aufrollen auf die SLB hatten wir schon Startposition, zündeten beim Rollen den Nachbrenner und folgten den noch anrollenden Maschinen. Nach nicht mal 10 Minuten ständigen Triebwerkslärm wurde es wieder still am Flugplatz Marxwalde. Dafür hatte der Geschwadergefechtsstand und die Jägerleitstelle alle Hände voll zu tun. Die 36 Flugzeuge wurden in Staffelgefechtsordnungen (Staffelformationen), in Gruppen taktischer Bestimmung oder andere Gefechtsordnungen (Formationen) aufgegliedert und zu unterschiedlichen Aufgaben in unterschiedlichen Räumen eingesetzt.

Mit diesem Geschwaderstart entzogen sich 36 Kampfflugzeuge MiG-21M / MF mit Bewaffnung und 36 Flugzeugführer des Jagdfliegergeschwaders-8 innerhalb 8 Minuten vor einem angenommenen Kernschlag des Gegners auf den Flugplatz Marxwalde. Da Ende der siebziger Jahre die Absicht der NATO Führung bekannt wurde, auf dem Territorium der BRD die Kernwaffenraketensysteme "Pershing 1" durch strategische Raketensysteme mittlerer Reichweite "Pershing 2" zu ersetzen und auf 108 Systeme zu erhöhen, 96 Flügelraketen und 156 operativ-taktische Kernwaffenraketensysteme zu stationieren, die bei "Einsätzen gegen das Luftkriegspotential" der vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages diese Systeme auch gegen Flugplätze der LSK/LV der NVA gerichtet sein konnten, wurden entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Eine war das Verfahren zum Erhalt der Kampffähigkeit eines Geschwaderpotentials durch rechtzeitiges Entziehen vor den Folgen eines Kernwaffenschlages auf einen Flugplatz. Nachdem in den Trainings die Normzeit von 10 Minuten sicher unterboten wurde, legte man 8 Minuten als Normzeit fest. Diese Zeit war aber nur bei hohem Trainingszustand und optimalen Bedingungen erreichbar. An den Flugplätzen der LSK/LV wurden alle Möglichkeiten eines gleichzeitigen Starts aller Geschwaderflugzeuge auf Beton- und Rasenflächen genutzt, so auch in Marxwalde durch das JG-8 mit einer 50 m breiten Betonbahn und einer 40 m breiten Rasenbahn. Auf weiteren Plätzen der 1. LVD (Luftverteidigungsdivision) wie in Preschen wurde eine 80 m breite Betonbahn und eine 50 m breite Rasenbahn genutzt. Hier waren Starts von der Betonbahn in der Kette (Viererformation) und vom Rasen im Paar (Zweierformation) ohne Probleme möglich. Zusätzlich stand dem JG-3 eine 18 m breite Starthilfsbahn sowie der Autobahnabschnitt Forst zur Verfügung. In Holzdorf konnte das JG-1 eine nur 37,5 m breite Betonbahn, aber darüber hinaus eine 40 m breite Rasenbahn und eine 12 m breite Starthilfsbahn nutzen. Um aber die Überraschung und das Risiko für ein Geschwader zu minimieren, wurde bei Kriegsgefahr eine dezentrale Dislozierung der Jagdfliegergeschwader geplant und bei Übungen durchgeführt und trainiert. So blieb nur eine Staffel auf dem Flugplatz der Hauptbasierung. Eine zweite, die Verlegestaffel wurde auf einem zugewiesenen Feldflugplatz, für das JG-8 war es der Flugplatz Müncheberg, stationiert, Und eine weitere Staffel sollte auf eine unbekannte Landefläche, eine Autobahn, eine gut ausgebaute Straße oder auf einen GST (Gesellschaft für Sport und Technik) Flugplatz verlegen.