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Ein ungewöhnliches Ziel oder Unwissenheit schützt nicht vor Schaden

(Text: Michael Wegerich)

Wir hatten auf der MiG-21M / MF fast alle Bedingungen für die Leistungsklasse II (vergleichbar mit LCR - Limited Combat Ready in der NATO) erfüllt und durften bei Übungen bereits Einsätze zum Abfangen von Luftzielen am Tage außerhalb und in den Wolken fliegen. Obwohl wir in der Kunstflugausbildung die ersten anspruchsvollen Manöver wie schräge Loopings oder schräge Aufschwünge flogen, waren wir von der Ausbildung zur Durchführung von Gefechtsmanövern im Manöverluftkampf noch meilenweit entfernt.

Bei einem Einsatzflug im Rahmen einer Übung wollte das Abfangen einfach nicht klappen. Ich verstand die Idee der Leitkommandos, die mich zu ständigen heftigen Kursänderungen zwangen nicht und konnte auch mein Ziel auf dem Funkmeßvisier (Radarbildschirm) nicht erkennen. Ich flog außerhalb der Wolken ca. 2000 m über einer glatten Schichtbewölkung. Verzweifelt suchte ich den Bildschirm des Funkmeßvisiers und den Luftraum vor mir nach dem Ziel ab. Die Entfernung zum Ziel wurde nach den Kommandos des Gefechtstandes ungewöhnlich schnell kleiner und ich wußte, in wenigen Sekunden bin ich am Ziel vorbei, ohne es gesehen zu haben. Doch plötzlich sah ich eine schwarze Silhouette ca. 1500 m tiefer, etwas links seitlich versetzt mit Gegenkurs auf mich zu fliegen. Ich meldete dem Gefechtsstand das Ziel und erhielt Erlaubnis zum Angriff. Das scheinbar schwarze Flugzeug vor den weißen Wolken sah aus wie die Silhouette einer F-111. Ich fragte mich, "wo kommt hier eine F-111 her?" Bei der Vorbereitung auf die bevorstehende theoretische Prüfung zur Leistungsklasse II hatte ich mich mit dem möglichen Luftgegner und seinen Erkennungsmerkmalen beschäftigt. Eine F-111 war auch darunter. Mit einer MiG-21 hatte ich gerechnet aber nicht mit solch einem Flugzeug. Mit dem Funkmeßvisier konnte ich bei dem bevorstehenden Manöver nicht mehr arbeiten. Ich entschied mich für den Kanoneneinsatz mit dem Kreiselvisier. Als Bewaffnung hatte ich nicht mal eine Übungsrakete, sondern nur das Fotokontrollgerät zum Filmen der Kanonenschüsse. Schnell waren die Waffenanlage und das Visier umgeschalten. Bei dem Ziel hätte ich mir gerne eine scharfe Kanone gewünscht. Mit nach vorne gefahrenem Schwenkflügel kam das Ziel immer näher. Kurz bevor es unter meinem linken Kabinenrand verschwand, wollte ich einen schrägen Abschwung nach links einleiten. Ich gab das Querruder nach links und zog mit kurzer Verzögerung aber immer noch beim Drehen in die Rückenlage den Steuerknüppel heftig an. Nach wenigen Sekunden merkte ich, daß wird kein schräger Abschwung sondern eine Spirale. Fast senkrecht stürzend sah ich das Ziel mit unveränderten Parametern unter mir durch fliegen. Ich nahm den Steuerknüppel kurz in die Neutrale, beseitigte die Schräglage und begann die Maschine energisch abzufangen. Von oben hinten etwas seitlich von rechts näherte ich mich dem Ziel mit großer Annäherungsgeschwindigkeit an und drohte das Ziel zu überholen. Ich riß den Drosselhebel auf Leerlaufdrehzahl, fuhr die Bremsklappe aus und hatte die Hand schon am Fahrwerkshebel, da sah ich das Zünden eines Nachbrenners. Also war es doch keine F-111, denn die hat zwei Triebwerke. Es konnte nur eine MiG-23 sein. Fast gleichzeitig mit dem Aufleuchten des Nachbrenners fuhren die Schwenkflügel in die hintere Position zum größten Pfeilwinkel und das Ziel zog nach oben rechts und flog mir so bei 350 bis 300 m genau durch die Visierlinie. Ich folgte dem Ziel nur leicht und der Zielpunkt glitt langsam über den Rumpf des Zieles in Höhe der Tragflächenwurzel. Nach der Landung berichtete ich den anderen Flugzeugführern von dem ungewöhnlichen Zielflugzeug. Kein Anderer hatte bis zu diesem Zeitpunkt eine MiG-23 vor dem Visier. Am nächsten Tag als ich zum Dienst kam, gingen schon Fotoabzüge mit einer MiG-23 durch die Staffel. In hoher Qualität und guter Belichtung war die MiG-23 hinter dem Visierkreis zu sehen. Es waren Bilder von meinem Schießfilm. Jeder wollte die Silhouette einer MiG-23 sehen. Solch ein Bild war etwas Ungewöhnliches für uns. Wir kannten die Zielsilhouetten der gegnerischen Flugzeuge und die der MiG-21 aber nicht mehr. Informationen über modernste sowjetische Waffensysteme waren sehr spärlich. Ich wußte bis dahin nicht mal, daß das JG-9 in Peenemünde seit zwei Jahren mit MiG-23 ausgerüstet war. Mein Ziel war eine MiG-23 des JG-9.

Nur die Offiziershörer der Militärakademien, die für eine höhere Kommandeurstätigkeit ausgebildet wurden und die in den Militärbibliotheken auch Zugang zu westlicher Literatur hatten, konnten sich auf diesem Wege über moderne sowjetische und eigene Waffensysteme informieren. Es galt das Prinzip, nur soviel Informationen wie zur unmittelbaren Auftragserfüllung erforderlich waren, bekanntzugeben. Das sicherte eine hohe Geheimhaltung bezüglich eigener Strukturen, Fähigkeiten, Plänen und Absichten der Führung sowie moderner Waffen- und Führungssysteme. Informationen konnten sich gewollt oder durch Unachtsamkeit nicht verbreiten oder gar in die Hände des Gegners gelangen. Im Falle einer Gefangennahme war das Wissen, welches ein Soldat auch unter Folter preisgeben konnte, nur gering. Um der NATO keine Schlußfolgerungen über das Leistungsvermögen der MiGs oder über den Ausbildungstand der NVA Flugzeugführer zuzulassen war es auch verboten, bei Begegnungen mit NATO-Flugzeugen über der Ostsee, sich in irgend welche Manöver einzulassen, sondern der Flugauftrag war durchzuführen, Meldung zu erstatten und bei Einschränkungen der Flugsicherheit auszuweichen und die Sicherheit herzustellen. In der Tat, die Geheimhaltung war sehr wichtig, barg aber die Gefahr zur Fehlbeurteilung einer Luftlage und möglicher Fehlhandlung in der Luft bei Unwissenheit über die Eigenen. Eine ähnliche Situation wie die kurzzeitige Fehlbeurteilung eines Zieles die im Ernstfall zum Abschuß eines eigenen Flugzeuges führen könnte, ist mir in meinem späteren militärischen Leben nicht mehr vorgekommen. Ich nutzte alle Quellen für mein Wissen, auch die einer Militärakademie.